Vampyr ist ein Spiel von Dontnod Entertainment, die hauptsächlich bekannt sind für Life is Strange und Life is Strange 2. Zwei spielbare Miniserien, bei denen es a la Telltale episodisch hauptsächlich um die Tragweite von narrativen Entscheidungen und weniger um traditionelles Gameplay geht. In Vampyr wollte man wohl diese Skala wieder etwas in die andere Richtung kippen – eine Sache, die sich monetär nicht so ausgezahlt hat, weswegen die Spielebibliothek der Firma anschließend wieder stark gegen spielbaren Film ging.
Wir übernehmen die Rolle von Doctor Jonathan Reid, der zu einem etwas unglücklichen Zeitpunkt nach London zurückkehrt. Denn eine Pandemie breitet sich gerade aus, welche in den nächsten Tagen die Krankenhäuser füllen, Leute einander gegenüber das Vertrauen nehmen, und eventuell sogar ganze Stadtteile unter Lockdown bringen wird. Eine interessante Situation, Vampyr ausgerechnet in 2022 nachzuholen. Gemeint ist natürlich die spanische Grippe, die sich in den frühen 1900er-Jahren breitgemacht hat. Genau genommen kommt Reid nämlich gerade vom Dienst an der Front des ersten Weltkrieges zurück.
Aber das ist nicht das einzige Problem Reids, denn er wurde von einem Unbekannten zum Vampir gemacht, erwachte im Blutrausch in einem Massengrab und überfiel die erste Person, die ihm in die Arme lief: Seine nach ihm suchende Schwester. Auf Detektivarbeit danach, wer ihm das eingebrockt hat, taucht Reid in seiner Rolle als Doktor in einem Krankenhaus in Whitechappel unter. Von wo aus er herausfindet, dass die Pandemie mit dem umhergehenden Vampirismus zu tun hat. Die Stadt ist nicht nur voller Blutsaugender Kreaturen, sondern auch Vampirjägern, vor denen er sich in Acht nehmen muss.
Dontnod zeigen in Vampyr durchaus ihren Hang zu den narrativen Strukturen. Beim Streifzug durch Londons Straßen und Untergrund werden wir schon auf so einige Gegner und ganze Bosskämpfe stoßen. Bei denen ein sich erweiterndes Arsenal an Waffen und Spezialfähigkeiten zur Verfügung steht, die uns via Level Ups zukommen. Es ist also schon ein Action-RPG. Doch der Augenmerk des Spieles steht erneut wesentlich zentraler auf seiner Handlung, und besonders auf der Interaktion mit den mehreren Dutzend NPCs pro Stadtbezirk und die Folgen unserer Entscheidungen ihnen gegenüber. Wie Hilfsbereit Personen oder ganze Fraktionen sind und ob Reids Vampirdasein auffliegt oder nicht, hängt also auch daran, wie wir als Spieler ihn sich gebaren lassen. Inklusive vier verschiedener Enden zur Handlung.
Wobei das natürlich wie immer auch wieder ein wenig Schall und Rauch ist. Ein Spiel, besonders ein modernes, welches ein entsprechendes Budget für Graphik und volle Sprachausgabe ausgeben muss, kann natürlich nicht endlose Variationen bieten. Besonders Vampyr, das von einem vergleichsweise kleinem Studio gemacht ist. Und so merkt man besonders gegen Ende der Story, dass wieder mal alle Wege nach Rom führen müssen. Egal wie man es sich mit einigen der Fraktionen eventuell verschissen hat, es gibt immer eine schnelle Dialog-Option, sie einem doch den helfenden Gegenstand für den Endboss überreichen zu lassen, statt langwierige eine alternative Lösungen programmieren zu müssen. Egal wie wenig ich das Love Interest beachtet habe, Reid wird ihr gegen Ende ewige Liebe schwören – und dann eine halbe Stunde später beim schlechten Ende eventuell doch einen Scheiß auf sie geben. Das ist wie gesagt nicht ungewöhnlich für diese Art von Spiel, aber Vampyr versteckt jene Limitation auch leider nicht sonderlich gut.
Eine Sache an Vampyr fand ich allerdings sehr faszinierend. Es gibt sozusagen eine Pacifist und Genocide Route im Spiel. Wir erhalten Erfahrungspunkte durch bestimme Lösungen im Spiel und natürlich auch von besiegten Gegnern. Die sind aber tragisch wenig vergleichsweise zu einer anderen Ressource: Zivilistenblut. Diese Dutzenden an NPCs in jedem Stadtbezirk, die wir nach Hilfe und allgemeinen Hintergrundinformationen zur Lage, sich selbst etc. pp. befragen können? Nichts hält uns davon ab sie umzubringen und leerzutrinken. Ironischerweise ist die Wertigkeit ihres Blutes sogar höher, je näher wir ihnen stehen. Je mehr über einen NPC herausgefunden wird, um so besser die Erfahrungspunkte, wenn wir ihn letztendlich austrinken.
Nun sind Spiele mit moralischen Systemen auch nicht so ungewöhnlich. Aber der Gute Samariter zu sein wird in ihnen immer belohnt, es ist häufig der beste Weg durchs Spiel, oder mindestens genauso erfolgreich wie der absolute Schurke zu sein (während ein Medium-Weg häufig wenig Goodies bereithält). Dementsprechend ist es ziemlich einfach „das Richtige“ in Spielen zu tun, denn wir werden für unser Gutmenschentum ja auch mit Items oder Erfahrungspunkten oder Geld belohnt. Vampyr dreht dies auf den Kopf. Je mehr NPCs wir umbringen, umso schneller leveln wir, umso einfacher haben wir es im Spiel. Vampyr stellt den Spieler also vor das Dilemma, dass „gut“ zu sein sich eben nicht so gut auszahlt wie „schlecht“ zu sein. Und das fand ich sehr interessant. Weswegen ich anschließend auch ein wenig auf Foren recherchiert habe, wie andere so gespielt haben. Es scheint nämlich so, dass die meisten Leute, um es eben einfacher zu haben, doch zumindest einige Zivilisten umbrachten. Gerade genug, um doch noch eines der besseren Enden zu bekommen. Besonders interessant dabei ist, wie sie sich die Gründe hinlegen, warum gewisse NPCs den Tod verdient haben oder nicht. Denn durchaus ist nicht jeder gleich, wir finden schon mal über einen Vater heraus, dass er sein Kind schlägt oder ähnliches. Dennoch ist es wahnsinnig interessant für mich persönlich, wie Leute ihr Töten kontextualisieren, warum jenen NPC umzubringen dennoch „gut“ war – einem Leben Wertigkeit zuzuordnen und es gegen die erhaltenen Erfahrungspunkte abzuwägen.
Ob jene Subversion voll so vom Spiel geplant war, sei mal dahingestellt. Ich bin nämlich tatsächlich den Schurken-Weg durchs Spiel gegangen und habe gegen Ende alle Stadtdistrikte Blutleer hinterlassen. Damit kann ich sagen, dass es doch nicht nur Belohnungen mit sich bringt, der Böse zu sein. Zu viele Zivilisten getötet und ein Distrikt „stürzt“, womit er nicht nur visuell apokalyptischer aussieht, sondern es bringt auch mehr Gegner auf die Straßen, mit denen man sich auseinandersetzen muss. Und das Level des Endbosses des Spieles skaliert mit dem eigenen, es kann sich also nicht überlevelt werden. Trotzdem, ob nun geplant, ob versehentlich, oder ob geplant und einfach nur nicht bis zum Extrem durchgezogen, ein interessantes Konzept war es allemal den moralisch richtigen Weg nicht automatisch als den spielerisch attraktivsten zu haben. Auch wenn ich persönlich habe ein wenig zu viel Abstand gegenüber einem fiktiven Narrative halte, so dass ich wenig Skrupel hatte, den schlechten aber lohnenden Weg zu gehen. Erneut kommt hier übrigens wieder die narrative Limitation zu Gesicht. Bevor es ins unterschiedliche Ende ging, betitelte mich das Spiel nämlich als den Retter Londons, weil ich den Endboss, der die Stadt bedrohte, besiegte. Und das, obwohl ich jeden einzelnen Stadtbezirk zu Fall gebracht hatte.
War jedenfalls insgesamt sehr unterhaltsam einen Vampir-Daddy zu spielen, der sich durchs komplette London saugt.